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J. Borner | Transformative Literacy und Transformation Literacy

A long way to transformation | schoolbus

Die „Große Transformation“ (auch der Städte) erfordert neue Formen des Wissens, erweiterte Formen der Wissensgenerierung, kontroverse Aushandlungen der Deutungen sowie der Integration von Wissen in die „Denkstile“ der verschiedenen Interessen- und Milieugruppen der Gesellschaft. Schon diese Aufzählung deutet auf eine Gruppe von Fähigkeiten oder Kulturtechniken hin, mit denen sich „offene“ Gesellschaften, also veränderungsfähige Gesellschaften (pro)aktiv ausstatten müssen, um sich an die globalen Veränderungen anpassen zu können.

Das System der Fähigkeiten und Kompetenzen, das sich korrespondierend zu den Herausforderungen entwickelt, und das die „Große Transformation“ mit ihren unterschiedlichen Phänomenen: der Wachstumswende, der Klimakultur, der Landnutzung, der Artenvielfalt u.a., ausmacht, lässt sich mit dem Begriff der

Transformative Literacy rahmen.

Scholz illustriert, wie das Wissen unterschiedlicher naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Disziplinen zusammenfließen muss, um eine solche „Alphabetisierung“ zu entwickeln. (www.oekom.de/gaia | GAIA 22/2 (2013): 82– 86) So verstanden, integriert Transformative Literacy System-, Ziel und Transformationswissen, das heisst Wissenstypen, die konstitutiv für eine transdisziplinäre Wissenschaft sind (CASS und ProClim 1997). In seinemWerk Environmental Literacy in Science and Society hat Scholz (2011) mit dem Begriff der Literacy Wissensprozesse im Umgang mit Mensch-Umwelt-Systemen beschrieben. Scholz versteht unter Environmental Literacy „the ability to read and utilize environmental information appropriately, to anticipate rebound effects, and to adapt to changes in environmental resources and systems, and their dynamics“ (Scholz 2011, S. 540 f.).

Dieser Zugang ist mit seinen Elementen der transdisziplinäre Kooperation verschiedener Wissenstypen, der prozessualen Reformulierung von System-, Ziel- und Transformationswissen – d.h. der Generierung eigenen Transformationswissens während der Transformation (Borner ) eine große Hilfe für die Identifizierung dessen, was Gesellschaft an Kulturtechniken und Institutionen braucht, um mit globalen Umbrüchen innerhalb planetarischer Leitplanken umgehen zu können.

Dennoch ist diese Definition, die sich auf Wissen beschränkt, zu eng. Der Begriff der Kompetenzen ist dagegen umfassender, situativer und v.a. handlungsorientiert (Output- und Outcome-orientiert). Er schafft Brücken zwischen wissenschaftlichen Bereichen der Gesellschaften und den Bereichen, in denen Implementierungen – wie in der Stadt, in der Energiewirtschaft, in der Landnutzung – stattfinden sollen.

Kompetenzen zeigen sich, wenn beim Zusammentreffen situativer Herausforderungen (Problemen) und dem individuell, institutionell oder gesellschaftlich zur Verfügung stehenden Potenzial angemessen gehandelt werden kann. Erpenbeck nennt Kompetenzen „Selbstorganisationsdispositionen“. Darin sind eingeschlossen: Wissen/Kenntnisse, Fähigkeiten, kreative Denkhandlungen, Methoden – aber ebenso die Haltungen und Gefühle, Werte, Einstellungen und Motivationen – also auch die Interessen!

A long way to transformation | schoolbus

Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) hat in seinem Hauptgutachten zur „Großen Transformation“ (WBGU2011) eine transformative Wissenschaft im Sinne von „transformativer Forschung“ und „transformativer Bildung“ gefordert. Damit zielt er auf eine Wissenschaft, die gesellschaftliche Veränderungsprozesse nicht nur versteht, sondern die in deren Gestaltung auch aktiv eingebunden ist und aktiv eingebunden werden will. Die transformative Forschung als eine „Forschung, welche die Transformation konkret befördert,[…)] unterstützt Umbauprozesse durch spezifische Innovationen in den relevanten Sektoren“ (WBGU2011, S. 23). Ferner kann „[…] transformative Forschung größere Wirkung entfalten, wenn die Entwicklungsaktivitäten […] in einen systemischen Kontext eingebettet werden, […] und die Bedingungen für transformative Wirkung reflektiert werden. […] Die transformative Forschung umfasst somit ein Spektrum von einer rein disziplinär verankerten bis hin zu systemisch angelegter

Forschung“ (WBGU 2011, S. 23 f.).

In dieser Rahmung beschreibt Transformative Literacy die folgenden Eckpunkte:

(a) die Fähigkeit, neuartige, aber auch unsichere und diffuse Informationen über gesellschaftliche Veränderungsprozesse zu verstehen (z.B. natürliche oder soziale Kippschalter). Man muss sich das vorstellen als Erkundung/Entdeckung völlig neuer Welten, in denen nicht die gewohnten Regeln, Wertungen, Rituale gelten – oder als einen Prozess eigener Alphabetisierung;

(b) die Kompetenzen, den durch die Veränderungen ausgelösten Stress auf die traditionellen Strukturen, Institutionen und Spielregeln zu deuten/ wahrzunehmen und hinsichtlich seines Störpotenzials als bewältigbar innerhalb der existierenden gesellschaftlichen Systeme einzuschätzen oder aber systemexterne Lösungszugänge und deren erhöhte Konfliktintensität zu identifizieren.

(c) die Kompetenzen (der Protagonistensysteme), sich zukünftige Alternativen „modellieren“ zu können. D.h. über unterschiedliche „Wenn – Dann“ Szenarien in komplexen und dynamischen Umbruchprozessen für die eigene Stadt, die rurale Region, die Branche, die kulturelle Lebensweise etc. Visionen zu entwerfen, die Orientierungen für heutige Entscheidungen mit Zukunftswirkungen geben. Diese Visionen können auch mit dem Begriff der Design Fiction bezeichnet werden.

Es geht also darum, im Umgang mit Transformationsprozessen gestaltungsorientierte und reflexive Fähigkeiten in der Wissenschaft sowie in der Gesellschaft als Ganzes zu schaffen.

Das bedeutet,

(d) sich und weitere Akteure unter ähnlichen Werten und „selbstverständlichen“ Normen zum Handeln und zum Gestalten dieser Zukunftsvisionen zu motivieren und/oder Kontroversen zu initiieren. Kontroversen über die der anerkannte und akzeptierte Werterahmen, der die Transformation leitet, , (immer wieder) ausgehandelt wird. In der Aushandlung wird die Transformation nicht linear, sondern in den durch die Aushandlungsprozesse notwendigen Schleifen und Wegänderungen geleitet. Eine im Wasser schwimmende Boje kann als Metapher für das nicht statische Ziel und den „beweglichen“ Weg herangezogen werden.

(e) die Kultur der Kontroverse als „Produktivkraft“ der proaktiven oder aus der Zukunft abgeleiteten Vision (soziales robustes Wissen erster Stufe). Die Kontroverse als nichthierarchische Diskursform von Wissen und Deutung über die Welt ersetzt den Konsens als handlungsleitende Mentalität.

(f) dass die Kultur des Erinnerns und des sozialen Gedächtnisses, insbesondere von extremen gesellschaftlichen Ereignissen – wie Erdbeben, Kriegen, sowie der Antizipation auf die Jetztzeit einen größeren Akzeptanzrahmen für Anpassungsmaßnahmen schaffen kann.

Transformation Literacy fragt entsprechend

auf der gesellschaftlichen Ebene – auf der institutionellen Ebene – auf der individuellen Ebene (Person) nach den Kompetenzen und dem Kompetenzsystem, welches notwendig ist um die Transformation in ihren unterschiedlichen Phänomenen zu verstehen (Lernkompetenz), in ihren dynamischen und komplexen Abläufen handeln zu können (Handlungskompetenz unter Ungewissheiten) und kreativ und proaktiv eine Roadmap zu „planen, die sich an einem Zukunftsbild (Vision) orientiert (Gestaltungskompetenz).

Demnach geht es bei der Transformation Literacy um die Fähigkeit, Transformationsprozesse adäquat in ihrer Vieldimensionalität zu verstehen und eigenes Handeln in Transformationsprozesse einzubringen. Denn Transformative Literacy macht sich daran fest, welche Informationen über soziale Veränderungsprozesse adäquat gelesen, interpretiert und genutzt werden, um sie in politische und ökonomische Entscheidungen einzubringen. Aus akademischer Sicht hat die Transformative Literacy eine technologische, ökonomische, institutionelle und kulturelle Dimension – wobei oft die technologische Sicht auf Veränderungsprozesse dominiert. Um die „Große Transformation“ zu meistern, muss dieses Ungleichgewicht beseitigt aber auch die unterschiedliche Dynamik in den Dimensionen in der aktuellen Transformationsdebatte beobachtet werden. (siehe Schneidewind)

Literatur

Scholz, R.W. 2011, Environmental Literacy in Science and Society, From Knowledge to Decisions, Cambridge. Cambridge University Press

Schneidewind, U. 2013, Transformative Literacy, Gesellschaftliche Veränderungsprozesse verstehen und gestalten. GAIA 22/2: p. 82–86
http://epub.wupperinst.org/files/4938/4938_Schneidewind.pdf [2015-07-13]

WBGU, 2011, World in Transition – A Social Contract for Sustainability, Flagship Report
http://www.wbgu.de/en/flagship-reports/fr-2011-a-social-contract/ [2015-07-13

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