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Anverwandlungen am 14.02.16 | 20.00 Uhr

Ein Beitrag von Dr. Manfred Ade

Wir erfahren in der Regel nicht (mehr) direkt, woher unsere Nahrungsmittel oder die Rohstoffe für ein technisches Gerät wie ein Smartphone kommen. Die bekannten Missstände hinter der Nahrungsmittelproduktion oder der Raubbau hinter Seltenen Erden bleiben uns verborgen oder sie bleiben medial, d.h. wir erfahren sie abstrakt über die Medien. Wir erfahren die Welt in verschiedenen Medien, die nun ihrerseits von der Ausbeutung der Erde und ihren Lebewesen in großem Stil – Energie und Rohstoffe betreffend – abhängig sind. Mit den Medien hat man den technischen Bock zum Gärtner gemacht.

Bücher, Zeitungsartikel, Internetdarstellung, ja die ganze Lebenswelt der Kommunikation gründet sich auf jene Missstände und Missetaten, über die sie uns abstrakt berichtet. Ihrem energie- und rohstoffverbrauchendem Wesen nach muss besonders die virtuelle Lebenswelt des Internet gerade daran interessiert sein, den Raubbau aufrecht zu erhalten, auch wenn sich verschiedene Unterregionen dieses medialen Reiches betroffen zeigen. Kein soziales System, auch nicht das System der virtuellen, gesellschaftlichen Kommunikation schafft sich gerne selbst ab. Aber das würde es tun, wenn es ernst nähme, auf was es sich gründet und von was es berichtet.

Den philosophischen Einsichten nach können soziale Systeme der Industriellen Kultur keine Lesarten der Welt entwickeln, die sie selbst wirklich in Frage stellen. Soziale Systeme erhalten sich immer solange es geht selbst und ihre Bandbreite an Veränderungen ist sehr gering. Die sozialen Systeme sind tatsächlich BLIND für das, was sie der Welt an Ausbeutung antun, damit sie kommunizieren können. Also wird es nie dazu kommen, dass das, was berichtet wird, der Sache nach für eine Korrektur wirklich her genommen werden kann.

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Der Trick, mit dem sich die virtuellen Systeme unentbehrlich machen ist der, dass sie den Massen von Informations-Konsumenten dazu verhelfen, alles wie auf einem Bildschirm zu erleben. Es kommt zur Distanzbildung und der Empfänger der Informationen wird nicht allzu sehr in das Geschehen hinein gestrudelt. Er kann seinen Tee oder Kaffee wohlig genießen, auch dann wenn er Berichte über deren Anbau hört, die wenig erbaulich sind. Es kratz nicht wirklich. Selbst der mediale Aufschrei, ein Shitstorm im Internet oder das vehemente Eingeben von persönlichen Daten bei Unterschriftsammlungen im Sinne eines Protestes bleibt geradezu göttlich indifferent.

Man kann den ganzen Tag damit verbringen, sich in Protestaktionen einzuschreiben. Aber das führt nicht zu einer tiefer greifenden Betroffenheit, sondern puffert diese geradezu ab. Protest ist eine Spielart des Selbstbehaltes der medialen Welt. Selbst die Realität, also z.B. das konkrete Abschlachten einer Tierperson zum Zwecke der Ernährung, wird medienhaft empfunden. Geschieht vor den eigenen Augen ein konkretes Leid, so schiebt sich wie von Geisterhand getrieben eine Zwischenebene ein und ermöglicht die mediale Distanz auch dann, wenn ein technisches Medium gar nicht vorhanden ist. Auch dann, wenn der Bildschirm weg ist, sehen wir die Welt nur noch wie einem Bildschirm. Die Psyche hat gelernt so zu tun, als Sitze sie im Kino. Der Bildschirm wurde internalisiert.

Technische Medien sind ein Genie-Streich der industriellen Kultur, mit dem erreicht wird, dass der Empfänger von Informationen oder Reizen sich sogar dann noch im erlösten Zustand des Nirwana befindet, wenn ihn die verzweifelten Schreie von Lebewesen direkt erreichen. Der Vorteil des Genie-Streiches liegt auf der Hand:
Die technische Welt erhält sich selbst, wie sie ist, indem sie barmherzig den Dunst der Dämpfung und Medialisierung als Norm psychischen Erlebens installiert hat. Wir leben in einer Welt von Phantomen, selbst dann, wenn wir glauben, wirklich betroffen zu sein.

Gehen wir vorsorglich davon aus, dass wir medial verdorben sind und tatsächlich die allgegenwärtige Gewalt der Industriellen Zivilisation nicht mehr so einfach spüren können. Vermutlich haben wir uns mehr oder weniger wohlig an diesen tiefen, konsumatösen Zustand gewöhnt. Dann aber liegt die konkrete Erfahrung des Lebens der Erde stark verhüllt im persönlichen Schatten, aber auch im Schatten unserer eigenen kulturellen Erinnerung (oder, wenn man will: im kollektiven Unbewussten). Denn es ist nicht so, als hätten wir keine kulturellen Ressourcen, dafür anders als medial, nämlich konkret zu empfinden.

Das primitive, magisch-mythische, wilde Denken und Erleben der Welt bietet eine kulturelle Ressource und eine Erlebens-Matrix, mit der wir in eine konkrete Wahrnehmung der Welt kommen können. Zwar sind die primitiven Kulturen oft von einem starken Pragmatismus im Umgang mit der Natur geprägt, aber sie enthalten Spitzen seelischer Verbundenheit mit der Natur, die wir nachzeichnen und kultivieren können. Dahinter steht die Fähigkeit zur seelischen Betroffenheit. Sicher, das wird nicht gleich bedeuten, dass wir wieder originär fühlen können. Aber es wird unser abstraktes, medienartiges Erleben lockern und zumindest verfremden. Es werden sich Brüche und Stolpersteine in der ansonsten abgehobenen, geglätteten Innenwelt einstellen, die uns den Weg in ein anderes Natur- und Lebenserleben führen. In das unserer einstigen, wilden Vorfahren, wie es sich heute darstellen kann.

Das Erleben der Welt unserer wilden Vorfahren, das muss klar gesagt werden, lässt sich nur unter Verneinung unserer anerzogenen Weisen des Erlebens erfahren. Wir müssen dazu umlernen und das heißt, dass wir lernen, „auf Zeit“ das abstrakte Denken und Erleben zu verlernen. Es geht nicht darum, das abstrakte Denken und Erleben ganz abzuschalten, denn wir brauchen es, um in der entseelten Kultur, deren Teil wir sind, zu bestehen.

Um „auf Zeit“ das abstrakte Denken und Erleben zu verlernen, werden wir zunächst einmal die „Psychologie“ des wilden Naturerlebens nachzeichnen und versuchen, dieses im Rahmen der Empathischen Naturkunde auf gängige Frühblüher wie den Weiden- oder Haselbaum konkret anzuwenden. Im idealen Fall wäre man dann in der Lage, mit einer Naturseele wie einer Weide in Frieden und Freundschaft ganz konkret zu stehen, nämlich dann, wenn man eine Weide mit der Absicht besucht, eben Frieden und Freundschaft im alten, wilden Sinne aufzubauen.
Indem wir „auf Zeit“ mit einer konkreten Weide Freundschaft und Frieden im primitiven (nicht-sentimentalen) Sinne schließen, werden wir auch lernen können, was ihre Fällung z.B. bedeutet. Wir kommen so besser an die seelische Dimension der herrschenden Gewalt gegen nicht-menschliche Lebewesen heran.
Das ist also das Thema am Sonntag. Es geht um die Anverwandlung einer Naturseele, um das „Mischen“ der eigenen Seele mit der Seele eines Naturwesens.

Wir knüpfen dabei an den bisherigen Stoff unserer Sonntage zum Seelenwissen und Naturgeisterwissen der germanischen, wilden Kultur an. Sie trägt Züge einer Zauberreligion. Bei diesem Stoff handelt es sich um historische Rekonstruktionen. Niemand kann sich heute mit Germanen mehr unterhalten. Die als Germanen bezeichnete Gruppe von Völkern ist untergegangen. Sie hat nur Spuren in der Mythologie, mittelalterlichen Literatur und in Form von archäologischen Überresten hinterlassen. Von daher besteht immer auch Unsicherheit darüber, inwiefern wir ein authentisches Bild zu den Germanen haben können. Aber es reicht, um uns selbst mit Sinn zu versorgen. Die Fähigkeit, sich selbst mit Sinn zu versorgen, ist die herausragende Anforderung unserer heutigen Kultiviertheit. Wir binden diese Fähigkeit, sich selbst mit Sinn zu versorgen in unsere natürliche Spiritualität ein.

Unter „primitiv“ oder „wild“ verstehen wir eine eigenständige, kulturelle Umgangsweise mit der Natur und Weltbewältigung. Wir verfallen nicht dem Wahn, dass wir heute geistig, seelisch oder spirituell höher stünden als wilde Kulturen. Das wäre nichts anderes als die Fortschreibung der Zivilisationskrankheit, die man „Zivilisationsmission“ nennt (d.h. man setzt Zivilisation über alles).

In Anbetracht der umfassenden Naturvernichtung der technischen Welt gibt es keinerlei Recht dazu, an unsere wilden Vorfahren mit ihrem Zentrum „Frieden mit der Natur“ direkt anzuknüpfen. Sie hatten etwas, das wir verloren haben. Im Gegenteil, bezogen auf den Umgang mit Natur heute muss das Wilde heute als ungleich höher stehend gesehen werden, als das so genannte Zivilisierte.

Auch von einem infantilen Regress, also einer Rückkehr zu kindlich-naiven Vorstellungen kann keine Rede sein, wenn wir begreifen, dass wir es bei den wilden Germanen mit einer in sich tragfähigen Kultur von Leuten zu tun hatten, die auf ihre Art vollständig erwachsen und ganz waren. Mit ihrem Impuls, den Frieden mit der Natur zu halten, waren sie in spiritueller, seelischer und körperlicher Hinsicht wohl erwachsener als zivilisierte Leute.

Dr. Manfred Ade
Haus der Empathischen Naturkunde
Email: docxxl@freenet.de

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