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Zum Gewinner des Goldenen Bären der Berlinale 2016

Von Kevin Rittberger

Fuocoammare – Keine Aufklärung selbstverschuldeter Verbrennung. Dem Gewinner der diesjährigen Berlinale Gianfranco Rosi genügt es, auf einem Auge blind zu werden.

Es hat etwas grenzenlos Obszönes, wenn die Kamera in Gianfranco Rosis Fuocoammare eine kurze Weile inmitten der Leichenberge im Schiffsbauch verweilt. Der Vergleich mit einem vergangenen, industriell-bewerkstelligten Massenmord, dem Holocaust, will sich aufdrängen. Doch wer ist es, der diesen Vergleich anstellen will, wer macht diesen Film, wer brennt uns diese Bilder auf die Netzhaut?

Fuocoammare-poster-locandina-2016Ein paar Mal noch gehen von diesen Bildern, zu denen noch weitere kommen, Schockwirkungen aus. Da liegen Geflüchtete an Deck der Einheit der Marina Militare, deren völlig dehydrierte Körper wie Fische zucken, im Halbkreis umstanden von Funktionsträgern, die in ihren weißen Schutzanzügen so regungslos dastehen, als hätten sie ihren Fang schon abgehakt. Da sind die blutgeäderten Augen der weinenden Mütter in Großaufnahme, deren Trauer man nicht verstehen soll. Da sind die Klagegesänge der Geflüchteten aus den Subsahara-Staaten, die wartend in ihren Massenunterbringungen hocken und vergangene Nahtoderfahrungen der jahrelangen Reise durch die Wüste chorisch aus sich heraus singen müssen, um sich ihres Untotseins zu versichern.

Und dann immer wieder Schnitt: Die halbherzig erzählte Coming-of-Age-Geschichte des jungen Samuele, Enkel am Ende der Nahrungskette einer traditionalen Fischerfamilie auf Lampedusa, der eigentlich nur Kakteen zu Zombies schnitzen möchte, um sie anschließend abzuknallen oder in die Luft zu jagen. Der Vater fährt auf See, wenn es das Wetter zulässt und kommt mit magerem Fang nach Hause. Die Großmutter betet für gutes Wetter, für einen guten Fang, wünscht sich vom Radiomoderator des örtlichen Senders den heilbringenden Song „Fuocoammare“, um die Wettergötter milde zu stimmen. Fuacoammare, weiß wieder die Urgroßmutter, das waren die Feuer auf offenem Meer, während des zweiten Weltkrieges, die das alte Lied im Radio heraufbeschwört. Und so zieht Samuele zu Beginn des Films als Halbstarker los, um mit seiner selbstgeschnitzten Schleuder buchstäblich den Vogel abzuschießen. Er weiß welches Holz das härteste ist und auf welchen Bäumen die unschuldigen Kreaturen sitzen, die man des nächtens erledigen kann. Am Ende des Films dann zielt er mit dem schwachen Auge, verfehlt den Vogel und streckt nach ihm schließlich wohltätig die zarte Hand aus. Während der Handlung, die immer wieder von den Bildern „der armen Teufel“ (so die Großmutter teilnahmslos beim Kochen über die 250 Toten der letzten Nacht) unterbrochen wird, muss Samuele nicht nur lernen, dass man auf hoher See als ungeübter Seefahrer kotzen muss, sondern auch, dass, wer ein lahmes Auge hat, das gute Auge verdecken muss, um dem schwachen die Gelegenheit zu geben, zum starken aufzuschließen. Rosi folgt seinem Protagonisten blind, lässt ihn jeden Sympathiebonus erlangen. Doch wofür?

Das einzige Bindeglied zwischen der Welt der Fischer auf Lampedusa und der Welt der Geflüchteten ist ein Arzt, der ein offenes Herz zu haben scheint. Vor seinem iMac-27 Zoll Screen sitzend und halb von der Kamera abgedreht, darf er sein unermüdliches Mitleid erklären, wenn er immer wieder Leichen bergen muss, „frisch geborene Kinder noch an ihren Nabelschnüren in die Leichensäcke“ stecken, Kindern zwecks Obduktion ein „Ohr abschneiden“ oder „einen Finger“. Ansonsten gibt es keine Berührungspunkte zwischen den Parallelwelten.

Ja, Welten trennen den Alltag der Heranwachsenden vom Leben und Sterben der Anderen, suggerieren die Geschichten. Und so werden die Menschen, die auf den Booten kommen, schamlos vor die Linse geholt. Ihre rastlosen, mäandrierenden Blicke suchen das nackte Überleben und nicht die Kamera. Hier sind sie Nummern in einer Aufzählung von endlosen Geschichten des Todes. Keine Fluchtursachen werden unter die Lupe genommen, keine einzelnen Geschichten beim Namen genannt, keine nationalen, ethnischen, religiösen Unterschiede, wenn eine wie der andere die distanzierte Kamera passiert. Sprachlos wie Leichenscheine gehen sie über den Schneidetisch, bezeugen nur die fehlende Zeugenschaft in ihrem gnadenlos unterlegenen Kampf gegen den militärisch-industriellen Komplex der Flüchtlingsabwehr der EU.

Denn das ist die einzige Aussage, die der Film hat: Es herrscht Krieg auf offenem Meer, wie anno dazumal. Nur dass der Feind sich die Verbrennungen diesmal ohne Raketenbeschuss zuzieht, da er während der Überfahrt in den hochseeuntauglichen Booten in einer giftigen, die Haut verätzenden Mischung aus Dieselöl und Salzwasser sitzen muss. Was will der Dokumentarist uns sagen, wenn er sich weder für das Geschäft der Schlepper, noch für den Militärapparat der EU interessiert, der eine ehemals zwischen Nordafrika und Europa bestehende legale Arbeitsmigration inzwischen in eine Form der illegalen Migration verwandelt hat? Etwa dass die Verletzungen und Tode selbstverschuldet seien, da die „armen Teufel“ es einfach nicht besser wissen? Etwa dass man gegen einen schicksalhaften Flüchtlingsstrom ebenso wenig machen kann wie gegen schlechtes Wetter? So bleibt im Film nur Hoffen und Bangen und Beten. Das gleiche gilt für den glückhaften Fang des alten Fischers.

Zwar bekommen wir einen beklemmenden Eindruck der Rettungseinsätze auf hoher See, aber wir bekommen auch erzählt, dass Unzählige sterben, weil der Funkruf zu spät kam oder der Empfänger diesseits der Festung zu stur an der Wiederholung des immergleichen und für den verzweifelten Anrufer unverständlichen „Your position!“ festhält. Wir, macht Rosi uns glauben, können eben keine Form der Solidarität kennen, die mehr bedeuten könnte als die numerische Bewerkstelligung einer militärisch durchgetakteten Rettungsmission. Denn das zeigt der Film durch die parallel geschnittene Geschichte des kleinen Samuele ganz klar: Wir tun unseren Job – indem wir die Grenzen militärisch schützen, die Geflüchteten an Land bringen und registrieren – und sind dabei auf einem Auge blind. Zwar schießen wir nicht mehr wie die Großeltern im offenen Gefecht, das illustriert das ins Leere zielende „Luftballern“ des nur anfangs heldenmutigen Samuele an der Brandung mit scharfem Blick, aber haben dem tagtäglichen Sterben auch nicht mehr entgegenzusetzen als einen kalten Apparat. Der empathische Arzt bestätigt indes nur die Regel. Wenn Samuele beim Arzt, gestikulierend wie Robert de Niro, von den Fortschritten seines schwächeren Auges erzählt und davon, dass ihm immer öfter die Puste ausgeht, ist dem Film eine komödiantische Szene gelungen. Nein, passiert. Ebenso wie es Rosi passiert, dass der seh- und aktionsgeschwächte Junge, der das Herz zwar zusehends mehr am rechten Fleck haben darf, für die Angst, Passivität und Tatenlosigkeit Gesamteuropas steht. Der Regisseur entscheidet sich für die Authentizität der Laien, für die er eine spielfilmartige Kadrierung finden will, und gegen die Echtheit seiner eigenen Beteiligung, die er bedeckt hält.

Die Ehrung des Dokumentarfilms, welche nun als politisches Zeichen gewürdigt wird, entspricht voll und ganz dem ambivalenten Zeitgeist der Ära Merkel. Symptomatisch ist das humanistische Verwalten der Krise – „so gut eben geht“. Symptomatisch ist auch das Ausblenden von sowohl Ursachen als auch Lösungsansätzen und -möglichkeiten. Sollte es dem Regisseur dieses nun offiziell anerkannten politischen Films wirklich darum gegangen sein, nicht unserem voyeuristisBoats4peoplechen Genießen des Schreckens ein filmisches Denkmal zu setzen, sondern dem unerträglichen Massensterben ein Ende zu machen, läge es auf der Hand, auch Alternativen aufzuzeigen, etwa Initiativen, die für Bewegungsfreiheit kämpfen, „Afrique-Europe-Interact“, „Boats4people“ oder „Watch the Med“ mitsamt der Aktion „Fähren statt Frontex“, um nur einige wenige zu nennen. Aber davon will der Dokumentarist nichts wissen. Er versteckt sich hinter der Kamera, lässt nur scheinbar die Bilder für sich sprechen.

 

Die nicht zu Ende erzählte Geschichte des harmlosen Fischerjungen spricht Bände. In seinem Leben kam er bisher nicht einmal in Berührung mit dem Massensterben. Ein einziges Mal gerät er während seines ersten Ruderbootwettfahrens im Hafen zwischen die Rettungsschlauchboote und damit in eine für den Anfänger unangenehme Situation. Der Film löst das komisch auf: Schon sieht man ihn an seiner das Handicap verursachenden, ulkigen Brille herumnesteln, vom fitteren Schulkameraden abgeschleppt, gemeinsam den Hafenbereich verlassend.

Der Film ist, einmal von der Analogie im Titel ausgenommen, von vorne bis hinten ahistorisch und dokumentiert – wider seine bestimmt guten Absichten – in Wahrheit nur die Ideologie des Machers: Die fahrlässige Massentötung, derer sich die Agenten der Festung Europa seit Jahren schuldig machen und zu der sie bisher keine aufrichtige Alternative annehmen wollen, inszeniert er als schicksalhaftes Naturschauspiel. Soll die Realität als ausweglose Tragödie erscheinen, kann es nur von Vorteil sein, wenn uns wie dem kleinen Samuele der Blick getrübt wird. Dass Fischer vor ein paar Jahren noch Geflüchtete selbst retten und auch in ihren Familien aufnehmen konnten, damit ein praktisches Beispiel von gegenseitiger Hilfe und ziviler Seenotrettung abgaben, davon will Rosi kein Zeugnis geben. Schrecklich dürfen wir das Leben und Sterbenlassen finden, aber schrecklich ist auch dieser Film in seiner Haltungslosigkeit.
(Der Text erschien am 22.02.16 in der Wochenzeitung Freitag)