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Reallabore als Forschungsansatz für die Energiewende

Vorstellung und Diskussion beim 26. Energiepolitischen Dialog des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) – Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung werden Reallabore als „regulatorische Experimentierräume“ und „neuartige Form der Kooperation zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft“ beschrieben. In einigen Experimentierräumen sollen vor allem alternative Regulierungsinstrumente erprobt werden. In Reallaboren, bei denen Kooperation im Fokus steht, sollen neue Formate der Vernetzung von Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft getestet werden. Außerdem sollen sie den Übergang von der Demonstration zur Markteinführung neuer Technologien unterstützen. Reallabore ermöglichen echte Partizipation und sind keine Instrumente der  Akzeptanzbeschaffung.

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(c) A.Kraft

Reallabore in der Politik

Das im September 2018 beschlossene 7. Energieforschungs-
programm greift die Schwerpunkte Alternative Regulierungsinstrumente sowie Vernetzung von Wissenschaft und Zivilgesellschaft auf. Erprobt werden sollen systemisch zusammenwirkende Geschäftsmodelle und Technologien beispielsweise bei Digitalisierung, Sektorkopplung und Gestaltung eines emissionsarmen Energiesystems. In Reallaboren sollen praktische Erfahrungen gesammelt und damit „technische“ und „nichttechnische“ Hemmnisse abgebaut werden. „Der partizipative Ansatz und die transparenten Strukturen in Reallaboren fördern Akzeptanz. Sie dürfen aber nicht als ‚Akzeptanzbeschaffungsmaßnahme‘ missverstanden werden“, betont Anne H. Kraft vom Kolleg für Management und Gestaltung nachhaltiger Entwicklung (KMGNE).

Den Reallabor-Ansatz im Kopernikus-Projekt Energiewende-Navigationssystem (ENavi) stellte die ENavi-Forscherin Anne H. Kraft beim 26. Energiepolitischen Dialog des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) zur Umsetzung des aktuellen Energieforschungsprogramms der Bundesregierung vor. Der energiepolitische Dialog ist ein regemäßig stattfindender Austausch zwischen VertreterInnen von Gewerkschaftsverbänden (z. B. Ver.di), gemeinnützigen Organisationen (wie der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland / BUND), kirchlichen Einrichtungen, politischen Stiftungen (z. B. Heinrich-Böll-Stiftung) und VertreterInnen von Forschungseinrichtungen (beispielsweise Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung / PIK).

Extreme in Politik und Forschung

Die Ministerien setzen derzeit unterschiedliche Schwerpunkte in den Reallaboren. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) fokussiert in der Forschungsförderung auf regulatorische Experimentierräume. Im Projekt SINTEG (Schaufenster Intelligente Energie), gefördert durch das BMWi, werden zum Beispiel innovative Produkte, Geschäftsmodelle und Regulierungsansätze getestet. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert Reallabore zum Beispiel im Kopernikus-Projekt ENavi als „neuartige Form der Kooperation zwischen Wissenschaft und Praxis“ mit dem Ziel „Lösungen auf wichtige Zukunftsfragen – vor allem im Bereich einer nachhaltigen Entwicklung“ zu finden, welche von Politik und Wirtschaft genutzt werden können.

In der Forschung alternieren Reallabore zwischen den Extremen „Testen eines Lösungsansatzes“ (Typ 1) und „Problemerkundung“ (Typ 2). Im ersten Ansatz ist der Rahmen gesetzt und Partizipation findet eher punktuell und zeitlich begrenzt statt. Reallabore des zweiten Typs bedürfen eines offeneren und verhandelbaren Rahmens sowie Ressourcen für eine intensive und dauerhafte Beteiligung. Typ 2 zielt mehr auf Erkenntnisse für die praktische Umsetzung und auf das wissenschaftliche Verständnis von Transformation ab. Wie sich die Ergebnisse wirtschaftlich verwerten lassen und welche regulatorischen Implikationen abgeleitet werden können, steht weniger im Fokus. In ENavi wird im Reallabor Nordwestmecklenburg (Typ 2) die Energiewende im ländlichen Raum widerbelebt. WissenschaftlerInnen und PraxisakteurInnen verorten, wo und welche – teilweise extrem – gegensätzlichen Anforderungen, Interessen und Erwartungen es bei den Förderbedingungen gibt. Gemeinsam handeln sie die unterschiedlichen Interessenlagen aus. So entstehen Lösungen, die von allen Beteiligten akzeptiert und aktiv unterstützt werden.

Reallabore im Kopernikus-Projekt ENavi

Im Kopernikus-Projekt Energiewende-Navigationssystem  (ENavi) sollen Roadsmaps für ein nachhaltiges Energiesystem in einem transdisziplinären Ansatz identifiziert werden. Über unterschiedliche Dialogformate und in Reallaboren werden zivilgesellschaftliche, politische und wirtschaftsorientierte AkteurInnen beteiligt. Diese Prozesse generieren System-, Ziel- und Transformationswissen.

Reallabore übertragen nicht bloß den naturwissenschaftlichen Ansatz in die Lebenswelt, sondern implizieren auch einen Paradigmenwechsel in der Wissenschaft. WissenschaftlerInnen übernehmen neue Rollen und Aufgaben – beispielsweise Projektmanagement, Öffentlichkeitskommunikation, Mediation. Sie treten aus der BeobachterInnen-Rolle heraus und intervenieren gemeinsam mit nicht-wissenschaftlichen WissensträgerInnen in einem realen Kontext. Das geschieht zum Beispiel, indem in einer Region quartiersübergreifend nachhaltig Energie erzeugt wird. Diese Realexperimente sind Testläufe für Zukunftsprojekte, jedoch bewegen sie sich im Spannungsfeld zwischen praktischem Erfolgsdruck und durch Misslingen bedingten Erkenntnisgewinn. Wissenserzeugung erfolgt kollaborativ. Dadurch werden neue (institutionelle) Strukturen und Schnittstellen notwendig. Unsicherheiten und Kontroversen werden explizit diskutiert und produktiv genutzt. In der Reallabor-Praxis ist das eine große Herausforderung und zum Teil erst möglich, wenn in einer längeren Zusammenarbeit Vertrauen aufgebaut wird. Reallabore benötigen Gestaltungsräume zum Learning-by-Doing. Außerdem ist eine Co-Leitung erforderlich, das heißt gleichberechtigte und aushandlungsbasierte Steuerung durch wissenschaftliche und gesellschaftliche VertreterInnen, um die Legitimation und langfristigen Erfolg zu unterstützen. Im Gegensatz zu wissenschaftlicher Grundlagenforschung braucht es einen „Ausstiegsplan“, da sonst angestoßene gesellschaftliche (Lern-)Prozesse versiegen und in Enttäuschung, (Beteiligungs-)Verdrossenheit und eventuell Ablehnung kommender Zukunftsprojekte umschlagen können.

Energieforschung mit Bürgerwissenschaften

In Reallaboren „forschen“ BürgerInnen bzw. PraxisakteurInnen mit WissenschaftlerInnen zusammen. Sie durchlaufen gemeinsam, zum Teil in wechselnden Konstellationen, den Forschungsprozess von der Problemdefinition, über die Schwerpunktsetzung, methodische Annäherung, praktische (experimentelle) Durchführung, Auswertung und iterative Lern- und Anpassungszyklen. Dies ist ein sehr zeitaufwändiger und ressourcenintensiver Prozess, welcher als Grundlage eine beidseitige Motivation braucht. PraxisakteurInnen übernehmen beziehungsweise tragen im Prozess zu Forschungsaufgaben bei, so dass Wissenschaft im Gegensatz zur Grundlagenforschung in ihrer Forschungsfreiheit beschränkt wird und sich auf praxisrelevante Themen einlässt. Forschungsmethoden müssen gegenüber PraxisakteurInnen dargestellt und legitimiert und Rückmeldungen einbezogen werden. Zum Beispiel wurde die Ansprache von BürgerInnen und Themen in der Haushaltsbefragung im Reallabor Nordwestmecklenburg nach Rücksprache mit lokalen Praxisakteuren stark verändert. Auch die kollaborative Bewertung der Ergebnisse birgt viel (produktives) Konfliktpotential.

Reallabore streben eine Beteiligungsintensität von nicht-wissenschaftlichen AkteurInnen in der Forschung mindestens auf der Stufe der Kooperation, bis hin zur Kollaboration an. Die Mitwirkung von PraxisakteurInnen bestärkt diese darin, dass sie analytische Denkweisen und methodisches Vorgehen auch auf andere Thematiken anwenden. Sie werden sogenannte „Citizen Scientists“(BürgerwissenschaftlerInnen). Neben der Frage nach einer nachhaltigen Energieversorgung und Mobilität im ländlichen Raum stehen im Reallabor Nordwestmecklenburg zum Beispiel die Themen Digitalisierung, nachhaltige Landwirtschaft und Transformation im Bildungssektor an.

Fazit: Reallabore als Diskursöffner

Reallabore können den Diskurs für die Energiewende öffnen. Sie sind Rahmen für Beteiligung an Forschungs- und Entscheidungsprozessen. Sie geben Raum für Innovationsentwicklung und gesellschaftliche Aushandlung. Sie befördern im Ergebnis den demokratischen Austausch über gesellschaftliche Zielvorstellungen. Sie können nachhaltige Systeminnovationen hervorbringen. Sie können außerdem Bottom-up-Prozesse durch soziale Lernprozesse und Vernetzung beziehungsweise Befähigung von Change Agents und Citizen Scientists befördern. Reallabore können damit einen Beitrag zur gerechten Gestaltung eines nachhaltigen Energiesystems leisten.

dsc03260 (2)ENavi-Forscherin Anne Kraft vom Kolleg für Management und Gestaltung nachhaltiger Entwicklung (KMGNE) untersucht, wie Reallabore die gesellschaftliche Partizipation bei der Energiewende unterstützen

 

 

Ein Gedanke zu „Reallabore als Forschungsansatz für die Energiewende“

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