Vom Wert des Individuums

Dem Thema der Nachhaltigkeit wird eine immer größere Bedeutung zugeschrieben. So findet das Konzept der Corporate Social Responsibility in immer mehr Unternehmen Beachtung, vor zwei Jahren sind jeden Freitag SchülerInnen aus aller Welt für eine gerechtere Klimapolitik auf die Straße gegangen und auch die Vereinten Nationen beschäftigen sich zunehmend mit diesem Thema. 2015 verfassten die vereinten Nationen deshalb 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (SDGs). Das besondere hierbei ist, dass im Rahmen dieser SDGs nicht nur bei den Entwicklungs- und Binnenländern ein Entwicklungspotential beschrieben wurde, sondern auch bei den Industrienationen. Alles in Allem stellen die SDGs somit einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung dar, besonders wenn man berücksichtigt, dass sich die Millenniumsentwicklungszielen (MDGs) aus dem Jahr 2000 noch primär an die Entwicklungsländer richteten. Trotz der umfassenderen und mehrere Bereiche durchdringenden Ziele der Agenda 2030, dessen Erreichen bzw. auch schon der Weg dahin im Sinne einer nachhaltigen Transformation wären, schwingen mit ihnen auch oft einzelne Narrative mit, die dem entgegenstehen und kontraproduktiv wirken können. Das beginnt schon bei einer Uneinigkeit bezüglich der Beantwortung der Frage was tatsächlich Nachhaltigkeit bedeutet. Es ist nichtsdestotrotz unsere Aufgabe als Gesellschaft, diese Narrative zu entdecken, zu beschreiben, zu hinterfragen und gegebenenfalls neue Narrative zu finden, welche einer nachhaltigen und gerechten Gesellschaft entsprechen, diese fördern und ermöglichen. Aus diesem Grund haben wir uns im Rahmen der Sommeruniversität Karnitz 2021 näher mit zwei der 17 SDGs beschäftigt und jeweils drei der Narrative, welche diesen zugrundeliegen herausgearbeitet und kritisch hinterfragt.

Ziel 4: Bildung für Alle

Bildung ist eine zentrale Voraussetzung für die Überwindung von Armut, eine menschenwürdige Beschäftigung und ein selbstbestimmtes Leben.

Durch die Menschheitsgeschichte hindurch und in vielen verschiedenen Gesellschaften hat es sich gezeigt, dass die Personen, die Zugang zu Wissen und Bildung hatten oft auch diese waren, die ihre gesellschaftliche Stellung leichter ändern konnten als Andere. Auf der anderen Seite ist die Verweigerung vom Zugang zu Bildung besonders in der Gegenwart in vielen Teilen der Welt ein effektives Mittel, Menschen und Gruppen aus vielen Ebenen gesellschaftlichen Lebens auszuschließen. Dass die Aneignung von Wissen an sich einem Menschen Zugang zu Dingen aller Art verschafft (durch Fähigkeiten, Perspektiven, und allein schon Entwicklungsmechanismen in der Kindheit, die durch Lernen gefördert werden) scheint zuerst einmal ein selbstverständlicher Schluss zu sein und die grundlegende Richtigkeit dieses Narrativs zu unterstreichen. Was in der Umsetzung allerdings wieder und wieder zu beobachten war ist die Wertung verschiedener Wissens- und Bildungsformen. Während sich die westliche Form der Bildung größtenteils weltweit durchgesetzt hat, verschwindet dadurch zum Teil Wissen, dass spezifischer für einzelne Kulturen oder Lebensweisen ist. Zum Teil ist es also fraglich, ob die Pflicht zum  Zugang zu westlicher Bildung in jedem Falle und Kontext dem Menschen zu menschenwürdigerer Beschäftigung und selbstbestimmterem Leben führen wird, oder ob dadurch nicht eventuell andere, erfüllende Lebenswege verloren gehen können. Eine Narration, die das berücksichtigt könnte daher Die Aneignung verschiedenster Arten von Wissen ist ein Grundbedürfnis und Grundrecht, das für das individuelle und gesellschaftliche Leben essentiell ist sein.

Alle Menschen lernen gleich

Morgens um sieben klingelt der Wecker, man macht ihn aus, dreht sich um, zieht sich die Decke über den Kopf und schläft weiter. 10 Minuten später erschallt der Ruf „Kind, du musst aufstehen, es ist schon zehn nach sieben!“ Müde schält man sich aus dem Bett, putzt sich die Zähne, zieht sich die Unterhose gefühlt über den Kopf, packt das Pausenbrot ein und rennt zur Schule. Dort angekommen geht es los. Zwei Stunden Mathe. Man setzt sich an seinen Platz, holt das Mäppchen und das Heft aus dem Ranzen und hört dem Lehrer dabei zu, was er über das aktuelle Thema zu erzählen hat. Gelegentlich schreibt man etwas von der Tafel ab oder löst eine Aufgabe aus seinem Buch. Nach 90 Minuten ist es geschafft. Freudig packt man seine Sachen wieder ein; die Pause kann kommen. Nach 25 Minuten kommen zwei Stunden Deutsch. So geht es dann den ganzen Tag weiter. Man sitzt ruhig auf seinem Platz, hört dem Lehrer zu, schreibt mit und gelegentlich löst man mal eine Aufgabe aus seinem Buch und freut sich über die regelmäßigen Pausen, bis nachmittags endlich der erlösende Schlussgong kommt.

Diese Geschichte kommt den meisten von uns wahrscheinlich aus der eigenen Kindheit bekannt vor, auch wenn sie natürlich ein bisschen überspitzt dargestellt ist. Sie zeigt aber sehr schön, wie wir Lernen als Gesellschaft verstehen. Ich persönlich konnte mich nie so wirklich mit diesem System anfreunden und kann es auch heute noch nicht. Ich kippel gerne, wenn ich was lese. Wenn ich denke, laufe ich gerne mal ein paar Schritte. Wenn ich arbeite, nehme ich gerne mal zwischendurch die Gitarre zur Hand, klimpere zwei, drei Akkorde und mache dann weiter, wo ich aufgehört habe. Und um ganz ehrlich zu sein, vor zehn bin ich meistens auch nicht in der Lage einen geraden Gedanken zu formulieren. Ich merke mir auch am besten Sachen, wenn ich das Gelernte gleich in die Tat umsetzen kann, bei etwas ganz Praktischem, nicht unbedingt alltäglich, aber relevant. Ich möchte nicht unser Schulsystem per se schlecht machen, es gibt sicher viele, für die das passt. Ich möchte auch nicht die Arbeit der LehrerInnen schlecht machen. Ich kenne einige persönlich und die meisten von denen fördern ihre SchülerInnen so gut es geht und gehen auf jeden ein, so gut es bei einer Klassenstärke von 25 Kindern eben geht. Aber nur im Rahmen dieses Systems, dass wie gesagt ja durchaus für viele passen mag, für einige aber eben nicht. Die SchülerInnen, für die es nicht passt, leiden aber ganz oft darunter und auch der persönliche Lernerfolg. In der akademischen Pädagogik ist dies auch schon lange bekannt, in unserer Gesellschaft aber leider noch nicht angekommen. Nein, wir exportieren die Vorstellung, dass SchülerInnen sich an die Schule anzupassen haben sogar in andere Länder. Aber nicht jeder lernt gleich, vor Allem, wenn wir auch andere Kulturkreise und die verschiedenen Mentalitäten noch mit einbeziehen. Wäre es nicht schöner, wenn sich Schule den SchülerInnen anpassen würde? Hat nicht jedes Kind, jeder Mensch das Recht, so zu lernen, wie es für ihn persönlich am besten ist? Wir sind schließlich alle verschieden, haben unterschiedliche Stärken, Schwächen und Interessen. Warum müssen wir alle gleich lernen?

An der Universitäten lehrt die Oberschicht

Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung (2014)[1] zeigt auf, wie unterschiedlich die soziale Abstammung von den Professoren gegenüber denen der gesamten Gesellschaft in Deutschland ist. Wie kommt es, dass die Professoren nur aus der Ober- und der oberen Mittelschicht stammen? Das liegt wohl letztendlich daran, dass Geld und Familie doch immer noch eine größere Rolle spielen als wir uns wünschen würden. Auf der einen Seite materiell: Auslandsaufenthalte, Nachhilfekurse oder das Studium an einer Privatuni. Auf der anderen Seite immateriell: Vorbilder, Motivationen und Selbstverständnis. Kinder aus Arbeiterfamilien würden auch studieren, schaffen es aber nicht in die höchsten Stufen einer akademischen Karriere. Wie können wir unsere gesellschaftlichen Strukturen verändern, um jedem Kind die gleichen Bildungschancen zu geben? An diesem Punkt muss Bildung ansetzen – was nicht im Elternhaus mitgegeben wird sollten an Schulen und Universitäten kommuniziert werden. Stipendien oder Mentorenprogramme sind eine gute Möglichkeit, talentierten Lernenden eine Chance zu geben, auch über ihre finanziellen Mittel hinaus, ihre eigene Bildung zu fördern. Viele wissen jedoch nichts von diesen Möglichkeiten, und selbst wenn sie es wissen, stehen eventuell Selbstzweifel oder falsche Selbstbilder (“Mein Vater ist Arbeiter, also kann ich keine Professorin werden”) im Weg. Vielleicht würde es einige motivieren, wenn sie sehen würden, dass nicht nur die Oberschicht an dem Professorentitel kommt. Darum kann es in diesem Zusammenhang zielführend sein, wenn der Weg zum wissenschaftlichen Aufstieg marginalisierter Personen nicht mehr als Skurrilität gilt, sondern mit einer gewissen Regelmäßigkeit gesellschaftliche Anerkennung zugesprochen bekommt.

Ziel 5: Gleichstellung der Geschlechter

Wenn Frauen gleiche Behandlung wollen, dann müssen sie auch gleiches leisten

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Wer soziale oder monetäre Anerkennung erfahren möchte, der muss eben eine gewisse Leistung erbringen. Doch wird Leistung immer im gleichen Maße wertgeschätzt? 2020 lag der Gehaltsunterschied zwischen Männern und Frauen bei gleicher Qualifikation im Schnitt  bei ca. 18%. Leisten Frauen also weniger bei der Arbeit als Männer? Eine Studie des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) legt nahe, dass die Leistung hierbei nicht der entscheidende Unterschied ist. Im Rahmen dieser Studie wurden 15.000 Studierende verschiedener Fachrichtungen zu ihren Gehaltsvorstellungen beim Berufseinstieg befragt. Das Ergebnis war, dass die weiblichen Befragten mit einem Einstiegsgehalt von etwa 33.500 Euro und die männlichen Befragten mit einem Einstiegsgehalt von 39.000 Euro pro Jahr rechneten[2]. Der erwartete Gehaltsunterschied lag somit bei etwa 17%, bei gleicher Qualifikation. Dass die unterschiedlichen Vorstellungen des Einstiegsgehaltes auch einen direkten Einfluss auf die Gehaltsverhandlungen haben, sollte nicht weiter überraschen. Da im Durchschnitt Akademikerinnen ihr erstes Kind im Alter von 32 Jahren bekommen spielt die Familienplanung und eventuell “versäumte”Jahre aufgrund der Kindererziehung hierbei keine oder nur eine zu vernachlässigende Rolle. Auch kann über die tatsächliche berufliche Leistung an diesem Punkt noch keine Aussage getroffen werden, da wir ja über den Berufseinstieg reden. Dies legt die Vermutung nahe, dass nicht eine unterschiedliche Leistung die Ursache der Ungleichbehandlung darstellt, sondern vielmehr die unbewusste Vorstellung über divergente Leistung und Leistungsbereitschaft in unseren Köpfen, sowohl bei Männern, wie auch bei Frauen. Aus diesem Grund sollten wir uns vielleicht von der Vorstellung verabschieden, dass Frauen, wenn sie die gleiche Behandlung erfahren wollen auch das gleiche Leisten müssen. Vielmehr sollten wir, wenn wir schon in einer Leistungsgesellschaft leben wollen, jedem Menschen die Chance einräumen, dass er erst die Leistung zeigt, bevor wir eine Aussage über die individuelle Leistung treffen und aufhören in Schubladen zu denken. Nicht das Geschlecht ist entscheidend, sondern das Individuum.

Männer und Frauen sind gleich, müssen daher gleiches leisten und gleiche Behandlung erfahren.

Männer denken rational und konkurrierend, während Frauen emotional und friedlich handeln. Ganz abgesehen davon, dass solche Vorurteile nach wie vor die freie Entfaltung vieler Individuen beschränken, dass sie sich an Geschlechterrollen zu orientieren haben, so bestehen sie doch auch neben der Forderung, dass Frauen und Männer gleiches leisten müssten, wenn sie gleiche Behandlung erfahren wollen. Die Voraussetzung für eine faire Behandlung in unserer Gesellschaft scheint also Leistung zu sein. Wer nicht in der Lage ist diese zu erbringen (aus welchen Gründen auch immer), der/die muss sich damit abfinden, weniger Beachtung und Wert von der Gesellschaft zugesprochen zu bekommen. Dieses System wäre vielleicht halbwegs fair, wenn Männer und Frauen die gleichen Voraussetzungen in unserer Gesellschaft hätten, aber dem ist bei weitem nicht so und selbst dann würden individuelle Hintergründe missachtet werden, nur um eine Hierarchisierung zu ermöglichen. Immer mehr Menschen scheinen der Ansicht zu sein, dass eine Wertzuschreibung basierend auf Leistungsfaktoren abwegig und zunehmend veraltet ist in einer pluralistischen, demokratischen und liberalen Gesellschaft, die sich der freien Entfaltung des Individuums verschreibt. Daher sind wir der Meinung, dass jeder Mensch denselben Wert und dasselbe Recht zugesprochen bekommen sollte, aufgrund seines Menschseins, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion etc. 

Das bestehende (Wirtschafts-)System ist in seiner Konzeption passend für Frauen wie Männer.

Für Menschen, die in dem bestehenden System keinen Platz finden, gibt es nicht viele Alternativen: Sie können als Aussteiger an einen relativ autonomen, isolierten Ort ziehen. Doch diesen Schritt zu machen, trauen sich wohl nicht viele. Zu sehr haben wir verinnerlicht, dass das System, in dem wir leben, richtig ist und, wenn wir dort nicht reinpassen, sind wir falsch. Die Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern in der Arbeitswelt, der Politik und insbesondere der Familie zeigen, dass das bestehende System eben nicht für alle gemacht ist. Die Ungleichheit zwischen Frauen und Männern ist dabei nur ein Aspekt. Jeder Mensch ist individuell – kann es also überhaupt ein System geben, dass für mehrere Millionen Individuen passend ist? Dieses Narrativ sorgt für Diskriminierung. Trotz Anpassungen im Arbeitsrecht haben es Personen, die schwanger werden können, immer noch schwerer im Beruf. Und nicht nur Frauen, sondern auch Männer, die sich beispielsweise auf die Erziehung ihrer Kinder konzentrieren möchten, werden kritisiert, weil sie nicht in die Norm fallen. Unser System muss strukturell und konzeptionell verändert werden. Das Ziel ist ein soziales System, das jedem Menschen ermöglicht, sein individuelles für ihn geeignetes Konzept der Erwerbstätigkeit zu gehen, ohne dabei von anderen Menschen Wertung zu befürchten.

Quellen:

[1] https://www.boeckler.de/boeckler-impuls-doktoren-selten-aus-arbeiterfamilien-10076.htme/d

[2] Gender Differences in Wage Expectations: Sorting, Children, and Negotiation Styles (iza.org)

AutorInnen: Marlene, Susanne, Maja, Juri und Mark (Gruppe 1/2021)

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