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Eine erweiterte Perspektive zum Erzählen – Bruno Latour und das terrestrische Moment

Eine Begegnung im Projekt INVERSION – Gropius-Bau Berlin.

Joachim Borner __ 26.6.2021

Hört man in den Sozialwissenschaften von Latour, dann denkt mensch an die Akteurs-Netzwerktheorie. Das, was sie hervorhebt ist, dass sie soziales, also gemeinschaftliches Handeln, welches ein Ziel (Zukunft) und eine Abstimmung beinhaltet, nicht nur als Beziehung zwischen Akteuren ansieht, sondern auch die nichtmenschlichen Faktoren einbezieht – und zwar nicht als Objekte sondern als quasi-Akteure (Aktanten)

Aber dieser philosophisch-methodische Ansatz soll uns heute nicht interessieren.

In letzten Veröffentlichungen Latours (Kampf um Gaia, Terrestrisches Manifest, Präsentation im Projekt INVERSION in Berlin 2020)  erzählt er über die Heutzeit. Ja er erzählt die Geschichte der globalen Veränderungen in den letzten 50-60 Jahren aus einem globalen Selbstverständnis heraus. Und wie sich dieses Selbstverständnis selbst veränderte, wie es kommuniziert wurde und wird und wie unter diesem öffentlichen Getöse Ahnungen und Gewissheiten um sich griffen, die andere sind. Worte, Bilder, gewohnte Beschreibungen fehlen dazu im Volksmund. Wohl auch deshalb, weil sich eine Metamorphose abzuzeichnen beginnt, für die es noch keine Begriffe gibt. Diffus in der Wissenschaft – mit Anthropozän/Kapitalozän, Noossphäre oder Noozän – distopisch in science fictions – es gibt nur trügerische Gefühle, soziale Lethargien und Panik. „Der Boden verschwindet unter den Füßen“ benennt das Latour. 

Schauen wir uns seine Erzählung an: Er erzählt was jede/jeder weiss: die Globalisierung, die Erkenntnis des Klimawandels, die Deregulierung, die Migrationen. Und dann kommt die erste Deutung … das ist die Erzählung zur Macht und der Entmachtung der Politik mittels Deregulierung; und die zweite Deutung: Veränderung der global_lokal -kulturellen Handlungspraktiken, das terrestrische Moment, also die vormalige Kulisse aus Natur und Territorium, (Biosphäre, Klima-Wetter, Meere und Wasser, Entwicklungsparadigma usw.) die zum Subjekt wird. Dieses Subjekt spielt „plötzlich“ mit, ungefragt und immer unangekündigt. Es ist Aktant. Und mit ihm verändern sich auch radikal(!) Gewissheiten: widerstreitende, kontroverse Gemeinschaften/Gesellschaften oder konkurrierende (aber kommunizierende) Weltbilder spalten sich, brechen Wettstreite ab, werden zu zwei kontaktlosen Welten. „Plötzlich  sieht es so aus, als sei überall gleichzeitig ein dritter Attraktor aufgetaucht und hätte alle Konfliktthemen umgeleitet, aufgesaugt und absorbiert, so daß jegliche Orientierung entsprechend der Tradition unmöglich geworden ist.“ 

Das ist Latours „Analyse-Methode“! Er beschreibt mit Metaphern, mit Worten und Bildern, die aus anderen Welten zu kommen scheinen, einen Epochenwandel.

Der Globus ist nicht groß genug für diese Art der Globalisierung – alles, was uns beunruhigt, ist die unheimliche Erfahrung, dass die Erde auf unsere Handlungen reagiert; die Moderne als Fortschrittsgeschichte ist vorbei – eine melancholische Erfahrung, die fragt, wovon das Überleben der menschlichen Kultur abhängen wird und wozu es keine Antwort gibt, nicht einmal die einer „kalten“ Gesellschaft oder die des Endes der Geschichte. (Flugzeug, dass nicht landen kann)

Auf jeden Fall wird die „Erde“ selbst ein politischer Akteur; der Mensch steht nicht mehr im Mittelpunkt, ist nicht mehr der einzig Handelnde, wird selbst zum Objekt. Alle Fragen der Zukunft werden geopolitische (globale) Fragen sein. Terrestrische Fragen/Terrestrischer Attraktor.

Auf seinem Tableau identifiziert Latour zwei unterschiedliche politische Akteure, die innerhalb der alten, anthropologischen Ordnung verbleiben – und „Auswege“ anbieten: Die Neo-Hyper-Modernisten, die alles zum Globalen beschleunigen und bereit sind, im Notfall die Erde oder mit kognitiv-künstlicher Aufrüstung das Menschsein zu verlassen (Minus-Globalisierung)  – und die Reaktionäre, die mit der Konstruktion des Lokalen (das erst als Gegenstück zum Globalen entstand), also mit Tradition, Gewissheit, (ethnischer) Identität.. ein Lokales wiederfinden wollen, was es nie gab.

Diese beiden entfernen sich voneinander … ergänzt durch die Preisgabe der politischen Aufgabe, der Erzeugung einer gemeinsam bewohnbaren Erde. Die gesamte Politik der Eliten kristallisiert sich als Klimaverleugnung – es ist eine politische Bewegung der Eliten, die sich dem Unwirklichen verschrieben haben, dem Zeit schinden um eigene Privilegien zu halten.

Der terrestrische Attraktor nun löst die traditionelle Unterscheidung von Individuum-Ökosystem; Natur-Kultur auf. Die Erde ist nicht nur Planet, sie ist ein komplexer Organismus, der nur als ein Zusammenspiel aller ihn bewohnenden Akteure und ihrer Abhängigkeiten verstehbar wird (Lovelook).

Zwei Aufgaben, übermächtig fast, stehen an: 1. Sehen lernen und nachzeichnen, was die gemeinsame Erde ist und wie sich ihr Organismus (Gaia) rasant verändert. 2. Was muss sein, um zu überleben (overlap der unterschiedlichen Interessen materialisieren)? Dabei wird Heimat ein neuer Begriff für: Landen lernen.